Warum Millionen Verträge noch heute rückabgewickelt werden können – und wie Verbraucher mit dem „ewigen Widerruf“ ihr Geld retten können.
Die private Lebens- und Rentenversicherung galt über Jahrzehnte als solides Fundament der Altersvorsorge. Millionen Deutsche vertrauten auf den Rat von Versicherungsberatern, Banken und Finanzvermittlern. Doch viele dieser Verträge – insbesondere solche aus den Jahren 1994 bis 2007 – enthalten gravierende rechtliche Mängel. Der Bundesgerichtshof (BGH) und der Europäische Gerichtshof (EuGH) haben deshalb entschieden: Wer nicht korrekt über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, darf den Vertrag noch heute rückgängig machen – selbst 20 Jahre später.
Der juristische Paukenschlag: Widerrufsrecht bleibt – bei fehlerhafter Belehrung
Mit Urteil vom 19.12.2013 (Az. C-209/12) hat der Europäische Gerichtshof klargestellt:
Die im deutschen Recht verankerte Einjahresfrist für den Widerruf von Lebensversicherungsverträgen ist nicht mit dem Europarecht vereinbar, wenn die Widerrufsbelehrung unvollständig, unklar oder falsch war.
Der Clou:
Die damals gültige Vorschrift § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F., die das Widerrufsrecht nach einem Jahr zum Erlöschen brachte, darf bei Lebens- und Rentenversicherungen nicht angewendet werden.
Der BGH (u. a. Urteil vom 07.05.2014, Az. IV ZR 76/11) hat diese EuGH-Vorgabe umgesetzt:
Versicherte können den Vertrag auch nach Jahrzehnten widerrufen, wenn die Widerrufsbelehrung fehlerhaft war – mit dem Ziel, die gezahlten Beiträge vollständig zurückzuerhalten.
Umfassende Rückzahlung statt Mini-Rendite – was ist drin für Verbraucher?
Nach einem erfolgreichen Widerruf hat der Versicherer das Vertragsverhältnis rückabzuwickeln. Das bedeutet konkret:
- Alle gezahlten Beiträge (Prämien) werden zurückgezahlt
- Zinsen bzw. Nutzungen, die der Versicherer damit erwirtschaftet hat, werden ebenfalls herausgegeben
- Lediglich der Wert für den erbrachten Risikoschutz (z. B. bei Todesfallrisiken) darf einbehalten werden
Beispiel:
Ein Verbraucher hat zwischen 1998 und 2015 rund 25.000 € in eine Kapitallebensversicherung eingezahlt. Heute liegt der Rückkaufswert bei nur 17.800 €.
Durch einen erfolgreichen Widerruf kann er bis zu 26.500 € zurückfordern – also mehr als 8.000 € mehr, als ihm aktuell zusteht.
Wer ist betroffen? Millionen Verträge sind widerrufbar
Laut Zahlen der Verbraucherschutzverbände sind über 60 Prozent der zwischen 1994 und 2007 abgeschlossenen Policen fehlerhaft belehrt worden.
Betroffen sind insbesondere Verträge im sog. Policenmodell, bei dem der Versicherungsnehmer die Unterlagen erst nach Vertragsschluss per Post erhielt – inklusive der Widerrufsbelehrung.
➡ Dieses Modell war lange Zeit Standard – und ist heute der zentrale Anknüpfungspunkt für das „ewige Widerrufsrecht“.
Die Versicherer wehren sich – aber der BGH urteilt verbraucherfreundlich
Obwohl die Rechtsprechung eindeutig ist, lehnen viele Versicherer Rückabwicklungen zunächst ab. Erst gerichtlich oder durch anwaltliche Vertretung lassen sich viele Unternehmen zu Zahlungen bewegen. Doch der BGH hat in Dutzenden Urteilen klargestellt, dass der Verbraucherschutz über der Interessenlage der Versicherungswirtschaft steht.
▶ BGH, Urteil vom 29.07.2015 – IV ZR 384/14: „Die Berufung auf den Fristablauf ist ausgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer keine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung erhalten hat.“
Dr. Thomas Schulte – juristische Wegbegleitung der Entscheidung
Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte aus Berlin hat den juristischen Weg dieser Entwicklung von Anfang an begleitet. Bereits in den frühen 2000er Jahren vertrat er Mandanten, die gegen ihre Lebensversicherer wegen fehlender Aufklärung und systematischer Rechtsverstöße vorgingen.
„Diese Urteile bedeuten eine historische Korrektur. Verbraucher haben jahrzehntelang zu wenig Rückkaufswert erhalten – und können jetzt auf vollständige Rückzahlung hoffen, wenn die Widerrufsbelehrung fehlerhaft war.“
— Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt, Berlin
Dr. Schulte war als leitender Vertrauensanwalt in Verbraucherschutzverfahren maßgeblich an der juristischen Ausarbeitung beteiligt, die dem EuGH-Urteil zugrunde liegt. Seine Kanzlei berät bundesweit Betroffene und begleitet Rückabwicklungsverfahren – auch im Streit mit Großversicherern.
Was sollten Verbraucher jetzt tun?
✔ Vertrag prüfen lassen
Lassen Sie Ihre Lebens- oder Rentenversicherung von einem spezialisierten Anwalt überprüfen. Entscheidend ist die Frage, ob die Widerrufsbelehrung fehlerhaft war – viele sind es!
✔ Rückabwicklung berechnen
Ein Rechtsanwalt kann eine wirtschaftliche Berechnung aufstellen: Wie hoch sind Ihre Zahlungen? Was steht Ihnen ggf. heute zu? Wie viel haben Sie verloren?
✔ Außergerichtlich oder gerichtlich durchsetzen
Viele Versicherer lenken bereits im vorgerichtlichen Verfahren ein – bei Ablehnung bleibt der Klageweg mit hoher Erfolgschance.
Fazit: Jetzt handeln – das Zeitfenster steht offen
Die Tür zum Widerruf steht nicht für alle Zeiten offen. Zwar gibt es keine absolute Frist, doch Gerichte erkennen bei sehr langer Untätigkeit manchmal eine „Verwirkung“ an. Deshalb gilt:
Je früher geprüft wird, desto besser die Erfolgschancen.
Für viele Verbraucher ist das die letzte Chance, sich gegen die schlechte Rendite oder den drohenden Verlust ihrer Lebensversicherung zu wehren – und ihr Geld vollständig zurückzuerhalten.