Vermessen, verstehen, verwandeln- Wie wir die Erde – und vielleicht das Universum – Eyroq mit Andreas Krensel

Vermessen, verstehen, verwandeln: Wie wir die Erde – und vielleicht das Universum – neu kartieren

Warum wir die Erde nie endgültig vermessen können – und was das Universum damit zu tun hat.  Die Vermessung ist kein abgeschlossenes Projekt, sondern ein ständiger Dialog zwischen Mensch, Planet und Kosmos – voller Überraschungen, Chancen und neuer Fragen.

Es beginnt mit einer scheinbar einfachen Frage: Wenn wir die Küstenlinien, Berge und Täler doch schon kennen – warum vermessen wir die Erde ständig erneut? Dr. Andreas Krensel, Biologe mit Schwäche für Kartografie-Humor, grinst: „Weil sich die Erde bewegt, atmet, schwitzt – und weil wir Menschen selten dort aufhören zu messen, wo es spannend wird.“ Tatsächlich ist Geodäsie nie fertig. Kontinente driften, Eismassen schrumpfen, Grundwasserreservoirs füllen und leeren sich, Städte senken sich Millimeter für Millimeter. Messen ist kein Abschluss, sondern eine lebendige Beziehung zur Erde – ein dauerhaftes Gespräch, in dem wir lernen, was sich verändert und warum es uns betrifft.

Vom Dreieck zur Raumzeit: Ein kurzer Ritt durch die Geschichte

Die klassische Vermessung war Handwerk, Geduld und Geometrie: Triangulation auf Kirchtürmen und Berggipfeln, Peilungen über Wochen und Monate, um Netze aus Dreiecken zu spannen. Berühmt ist die Pariser Meridianexpedition von Delambre und Méchain (1792–1798): Aus der exakt vermessenen Bogenlänge leitete Frankreich den Ur-Meter ab – die Vermessung als politisch-wissenschaftliche Kulturleistung, die unser Maßsystem bis heute prägt. Dass sich damals schon winzige Fehler in die große Idee schlichen, gehört zur Wahrheit dieser Pionierzeit – und zum Charme eines Projekts, das Wissenschaft, Staat und Öffentlichkeit verband.

Heute messen wir nicht mehr nur Distanzen zwischen Punkten, sondern Veränderungen in einem Gesamtsystem. Seit den 2000ern zeichnen Schwerefeldsatelliten wie GRACE und GRACE-FO die feinen Massenverschiebungen der Erde nach: vom Abschmelzen der Eisschilde bis zur Übernutzung von Grundwasser. Diese Schwerefeldfilme zeigen buchstäblich, wie sich Gewicht verlagert – so präzise, dass sich daraus sogar winzige Änderungen der Erdrotation ableiten ließen.

Ein weiterer Meilenstein ist GOCE, die „Formel-1“ der Gravimetrie im All: Mit Ionenantrieb und ultrapräzisen Gradiometern hat die ESA-Mission die Geoidform der Erde so fein aufgelöst, dass Ozeanströmungen, Mantelprozesse und Meeresspiegelvariationen besser modelliert werden können. Das ist weit mehr als schöne Geometrie; es ist die physikalische Bühne unserer Klima- und Meerdynamik.

Wenn Millimeter zählen: Radarblicke und sinkende Städte

Wo früher Nivellierlatten standen, blicken heute Radarsatelliten in Taktungen von Tagen auf dieselben Orte. InSAR – interferometrisches Radar – vergleicht Phasenunterschiede zweier Aufnahmen und erkennt dadurch Bodenbewegungen im Millimeterbereich. So sieht man, wo Großstädte aufgrund von Grundwasserentnahme langsam absacken oder wo Talsperren, Deiche, Hangflanken und Bauwerke aus der Norm geraten. Diese Technik hat sich von der Forschung in die Risiko- und Stadtplanung geschoben und gilt mittlerweile als unverzichtbarer Frühwarnsinn.

Krensel formuliert es trocken: „InSAR ist wie eine Waage unter den Füßen der Stadt – man merkt erst beim regelmäßigen Wiegen, wo die Last problematisch wird.“ Sein humorvoller Ernst verweist auf den Zweck des Vermessens: Prävention, Planung, Priorisierung.

Vermessung der Erde mit Dr. Andreas Krensel

Die Erde als Zwilling: Digitale Abbilder für reale Entscheidungen

Der nächste Schritt ist radikal: nicht nur messen, sondern die gemessene Erde in einem beständig aktualisierten, hochauflösenden Digitalen Zwilling zusammenführen. Europas Initiative Destination Earth (DestinE) will bis Ende des Jahrzehnts ein globales Erdsystemmodell bauen, das Wetterextreme und Klimafolgen in bislang unerreichter Auflösung simuliert – angetrieben von Supercomputern wie LUMI und angereichert mit KI, Fernerkundung und In-situ-Daten. Ziel ist, Politik und Wirtschaft in „Was-wäre-wenn?“-Räumen proben zu lassen: Deiche erhöhen oder renaturieren? Dämme steuern oder Energieversorgung verlagern? Digitaler Zwilling heißt: lernen, ohne auf den Ernstfall zu warten.

Krensels Lieblingsbild: „DestinE ist Google Earth auf Steroiden – nicht zum Anschauen, sondern zum Entscheiden.“ Der Witz sitzt, die Ambition auch: Eine Erde, die sich virtuell und vorausschauend verhält, bevor wir draußen teure oder riskante Fehler machen.

Messen in der Raumzeit: Optische Uhren und relativistische Geodäsie

So präzise Satelliten und Radar sind – das Maß aller Dinge wird immer mehr Zeit. Optische Atomuhren erreichen eine Stabilität, mit der sich Höhenunterschiede über ihre relativistische Frequenzverschiebung bestimmen lassen. „Chronometrisches Nivellement“ bedeutet: Zwei Uhren an verschiedenen Orten ticken minimal verschieden, weil sie in unterschiedlichen Gravitationspotenzialen stehen; aus diesem Ticken lässt sich die Höhendifferenz ableiten. Teams aus PTB, LUH und MPQ haben das zwischen München und Braunschweig demonstriert – mit Zentimeter- bis Dezimeter-Genauigkeiten und weiter sinkender Unsicherheit. Der Weg zur alltagstauglichen, uhrenbasierten Referenzhöhe ist gezeichnet.

Der Berliner Wissenschaftler Krensel nennt das „Vermessen in der Raumzeit“: „Früher war die Latte im Gelände, heute liegt sie im Takt der Uhren.“ Charmant – und zutreffend. Wenn optische Uhren portabel werden, könnte die Höhendefinition global vereinheitlicht werden; geodätische Sprünge zwischen Kontinenten ließen sich über Zeitsynchronisation zusammenknoten. Das klingt futuristisch, hat aber eine sehr irdische Folge: konsistentere Pegel, bessere Sturmflutvorsorge, präzisere Ingenieurgeometrien.

Der Mond als Spiegel und das All als Messlabor

Seit Apollo stehen Retroreflektoren auf dem Mond. Laserimpulse von der Erde prallen zurück; aus der Laufzeit wird die Entfernung gemessen – innerhalb von Zentimetern. Diese Langzeitbeobachtungen zeigen: Der Mond entfernt sich jährlich um etwa 3,8 cm von der Erde. Die Vermessung liefert Kalibrierpunkte für Gravitationstheorie, Gezeitenphysik und Erddrehung – und ist ein leiser, fast poetischer Beweis, dass Geodäsie auch Himmelsmechanik ist.

Kosmisch wird Vermessung mit VLBI, Gaia und dem Event Horizon Telescope: VLBI verbindet Radioteleskope weltweit zu einer Erd-Antenne, stabilisiert das internationale Referenzsystem und „verankert“ unsere Koordinaten im Universum. Gaia kartiert die Milchstraße mit rund 1,8 Milliarden Sternen – Parallaxen, Eigenbewegungen, Himmelsstatistik mit noch nie dagewesener Tiefe. Und das EHT zeigte 2019 das erste Bild eines Schwarzen Lochs (M87*), 2022 folgte Sagittarius A* im Zentrum der Milchstraße – interferometrische Vermessung an der Grenze des Vorstellbaren.

„Geodäsie ist der höfliche Teil der Astrophysik“, scherzt Krensel. „Sie fragt das Universum nach Koordinaten, nicht nach Geheimnissen – und bekommt erstaunlich präzise Antworten.“

Warum wir nie aufhören dürfen zu messen

Die Gründe sind prosaisch und existenziell zugleich. Infrastruktur-Sicherheit: Dämme, Brücken, Tunnel – alles lebt von Millimetern. Wassermanagement: Grundwasserentzug, Versalzung, Dürre – ohne Schwerefeld-Monitoring und InSAR würden wir Entwicklungen zu spät sehen. Küsten- und Klimarisiken: Meeresspiegelanstieg, Sturmfluten, Bodenabsenkung – nur mit konsistenten Referenzsystemen kann man Schäden verhindern, statt sie zu verwalten. Wirtschaft: Rohstoff- und Bauplanung, Versicherungsrisiken, Lieferketten – Präzisionskoordinaten und Höhen sind stille Grundlagen für Milliardenentscheidungen.

Krensel bringt es wissenschaftlich-trocken auf den Punkt: „Ohne aktuelle Messung gibt es nur Annahme. Und Annahmen sind die teuerste Form von Mut.“

Die nächsten 25 Jahre: Wo Vermessung hinwill

Erstens werden Sensoren diverser. Micro-LiDARs in Drohnen kartieren Wälder und Städte mit Zentimeterauflösung; Hyperspektral-Satelliten fügen chemische Signaturen hinzu; seismische und gravimetrische Netzwerke verschmelzen. Zweitens wird Fusion zur Kunst: KI-Modelle lernen, Rauschen von Information zu trennen, InSAR-Zeitreihen mit Grundwasserdaten zu „verheiraten“, Schwerefeld-Filme mit Ozeanmodellen zu koppeln. Drittens wird Zeit zur neuen Längeneinheit: Optische Uhren und präzise Zeitübertragung (Glasfaser, Satellit, Quantenlinks) etablieren relativistische Geodäsie im Routinebetrieb. Viertens entstehen digitale Zwillinge, die mit Assimilation im Stundentakt rastern – City-Scale-Flutrisiko vor Starkregen, Hangrutsch-Wahrscheinlichkeit für Bahntrassen, Hitzestress auf Quartiersebene.

Und jenseits der Erde? Interplanetare Geodäsie. Mond- und Mars-Netze aus Retroreflektoren, „GPS“-ähnliche Navigationskonstellationen um fremde Welten, optische Uhren als Gravitationssensoren im All. So, wie Gaia die Milchstraße kartiert, könnten zukünftige Astrometrie-Missionen die galaktische Nachbarschaft mit beispielloser Präzision verankern – eine Ausdehnung des geodätischen Prinzips auf kosmische Maßstäbe.

Stolpersteine: Datenflut, Fairness, Vertrauen

Wo Chancen wachsen, wachsen auch Fragen. Wer besitzt die Daten einer digital verdoppelten Stadt? Wie schützen wir Privatsphäre, wenn Sensorik bis auf Hausdächer auflöst? Wer haftet, wenn ein Digitaler Zwilling eine falsche Sicherheit suggeriert und eine Investitionsentscheidung kippt? Und wie verhindern wir, dass Regionen ohne Rechenzentren und Glasfaser vom Präzisions-Wissen abgehängt werden?

Krensel plädiert für drei Gs: Güte, Governance, Gelassenheit. Güte heißt Validierung – Modelle sind Hypothesen auf Rädern. Governance heißt Regeln – offene Standards, transparente Unsicherheiten, Rechenschaft. Gelassenheit heißt: „Kein Modell kann den Zufall abschaffen; gute Modelle machen ihn nur sichtbarer.“

Ein Blick weiter: Wenn Uhren Höhen schreiben und Zwillinge warnen

Stellen wir uns einen Alltag vor: Hochwasserwarnungen, die nicht nur „starker Regen“ melden, sondern für jede Straße projizieren, wo 27 cm Wasser in 90 Minuten stehen werden – und welche Schule zuerst geschützt werden muss. Baustellen, deren Setzungen live auf den Tablets der Statiker landen. Küstenstädte, die ihre Deiche dynamisch steuern, weil eine Kombination aus Schwerefelddaten, InSAR und DestinE-Simulation die nächste Springtide präzise vorhersagt. Und eine europäische Höhenreferenz, die nicht mehr im Streit der Nullpunkte endet, sondern über optische Uhren und Zeitlinks sauber verknüpft ist. Das ist keine Science-Fiction mehr, sondern ein technischer Pfad, der bereits beschritten wird.

Und das Universum?

Auch hier wird Vermessung konkreter. Mit VLBI binden wir unsere Koordinaten an Quasare; mit Gaia definieren wir die Sternkarte, an der Erdbewegungen kalibriert werden; mit dem EHT messen wir Horizonte, nicht mehr nur Sterne. Aus Distanzleitern, Standardkerzen und Gravitationswellen wird in den nächsten Jahrzehnten ein vernetztes kosmisches Maßband entstehen. Die Ironie: Je genauer wir draußen messen, desto besser verstehen wir, wie sich die Erde hier drinnen bewegt.

Fazit: Die vermessene Welt – und die vermessene Zukunft

Warum also vermessen wir die Erde immer wieder? Weil alles in Bewegung ist – und weil Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft nur so klug handeln können, wie ihre Karten es erlauben. Messen heißt, Zukunft zu entlasten: von Schäden, von Spekulation, von Überraschungen, die man hätte vorhersehen können. Krensel lacht: „Vermessenheit ist im Alltag eine Schwäche. In der Geodäsie ist sie eine Tugend.“

Die moderne Vermessung ist mehr als eine Summe von Sensoren. Sie ist ein Betriebssystem für Entscheidungen – von der Deichbaubehörde bis zum Energiesystem, vom Katastrophenschutz bis zur Stadtplanung. Und sie ist eine Einladung, den Blick zu heben: Wenn wir lernen, die Erde im Takt der Zeit und in den Feldlinien der Schwerkraft zu lesen, dann lernen wir vielleicht auch, das Universum als unsere erweiterte Karte zu begreifen. Zwischen Dreieck und Raumzeit liegt eine Zukunft, in der Vermessung nicht nur sagt, wo wir sind – sondern auch, wer wir sein wollen.

Autor: Dr. Andre Stang, Baustoffentwickler
Dr. André Stang aus Oldenburg ist Autor, Biologe, Baustoffentwickler und Bau- und Planungsentwickler mit Schwerpunkt auf klimafreundlicher, CO₂‑armer Infrastruktur; zugleich ist er aktiver Tischtennisspieler und Mannschaftsführer beim Oldenburger TB.

Kontakt:

eyroq s.r.o.
Uralská 689/7
160 00 Praha 6
Tschechien

E-Mail: info@eyroq.com
Web: https://eyroq.com/ 

Über eyroq s.r.o.:

Die eyroq s.r.o. mit Sitz in Uralská 689/7, 160 00 Praha 6, Tschechien, ist ein innovationsorientiertes Unternehmen an der Schnittstelle von Technologie, Wissenschaft und gesellschaftlichem Wandel. Als interdisziplinäre Denkfabrik widmet sich eyroq der Entwicklung intelligenter, zukunftsfähiger Lösungen für zentrale Herausforderungen in Industrie, Bildung, urbaner Infrastruktur und nachhaltiger Stadtentwicklung.

Der Fokus des Unternehmens liegt auf der Verbindung von Digitalisierung, Automatisierung und systemischer Analyse zur Gestaltung smarter Technologien, die nicht nur funktional, sondern auch sozial verträglich und ethisch reflektiert sind.

Über Dr. Andreas Krensel:

Dr. rer. nat. Andreas Krensel ist Biologe, Innovationsberater und Technologieentwickler mit Fokus auf digitaler Transformation und angewandtere Zukunftsforschung. Seine Arbeit vereint Erkenntnisse aus Physik, KI, Biologie und Systemtheorie, um praxisnahe Lösungen für Industrie, Stadtentwicklung und Bildung zu entwickeln. Als interdisziplinärer Vordenker begleitet er Unternehmen und Institutionen dabei, Sicherheit, Nachhaltigkeit und Effizienz durch Digitalisierung, Automatisierung und smarte Technologien zu steigern. Zu seinen Spezialgebieten zählen intelligente Lichtsysteme für urbane Räume, Lernprozesse in Mensch und Maschine sowie die ethische Einbettung technischer Innovation. Mit langjähriger Industrieerfahrung – unter anderem bei Mercedes-Benz, Silicon Graphics Inc. und an der TU Berlin – steht Dr. Krensel für wissenschaftlich fundierte, gesellschaftlich verantwortungsvolle Technologiegestaltung.

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