„Wenn David rechnen lernt“ – Die neue Praxis der Lebensversicherungs-Rückabwicklung

Die Zeiten, in denen Verbraucher ihre Lebensversicherung still hinnehmen, sind vorbei. Heute wird gerechnet, verglichen, widersprochen – und geklagt. Die Rückabwicklung ist keine Randerscheinung mehr, sondern ein gesellschaftliches Phänomen: Sie vereint Mathematik, Psychologie und Recht in einem Kampf um Fairness. Es ist ein leiser, aber tiefgreifender Umbruch.

Mit Blick auf die Praxis: Wie gehen Betroffene vor? Wie reagieren Versicherer? Welche Rolle spielen Gutachten, Prozessfinanzierer, Vergleichskorridore und typische Einwände? Und warum sagen Experten wie Sven Enger, Geschäftsführer der auxinum GmbH, und Dr. Thomas Schulte, Berliner Rechtsanwalt und Pionier der Rückabwicklung, dass wir am Beginn einer neuen Ära des Verbraucherschutzes stehen?

„Die Bühne ist eröffnet“ – Der Machtwechsel im Versicherungssystem

Jahrzehntelang war die Lebensversicherung das Symbol deutscher Sicherheit. Über 81 Millionen Verträge sind bis heute aktiv. Ein gigantischer Kapitalpool von mehr als einer Billion Euro. Doch nun wendet sich das Blatt. Eine wachsende Zahl von Kunden entdeckt, dass ihre Verträge auf fehlerhaften Belehrungen, intransparenten Kostenstrukturen und unrealistischen Zinsannahmen beruhen. Was früher als gottgegeben galt, wird heute juristisch hinterfragt.

Sven Enger, der einst selbst Vorstand in der Branche war, beschreibt es drastisch:

„Das System hat die Menschen mit Versprechen beruhigt, die auf Zinsillusionen ruhten. Jetzt kehrt die Mathematik zurück – und mit ihr das Recht.“

Enger sieht in der Rückabwicklung keine Revolte, sondern eine notwendige Marktbereinigung. Die Versicherungswirtschaft, sagt er, werde lernen müssen, dass Kunden nicht länger nur Policenhalter sind, sondern Akteure mit Rechenverstand.

„Verhandeln, nicht verbrennen“ – die neue Taktik gegenüber Versicherern

Rückabwicklung ist kein Angriff, sondern ein Test der Vertragstreue. Und doch verhalten sich viele Versicherer, als sei sie eine Bedrohung. Die Erfahrung zeigt: Der erste Brief entscheidet selten, der zweite oft.
Dr. Thomas Schulte, einer der Juristen mit Team, die die BGH-Entscheidung (IV ZR 76/11) maßgeblich vorbereitet haben, kennt das Spiel.

„Versicherer reagieren nicht mit Einsicht, sondern mit Strategie. Sie verneinen die Fehler, prüfen die Belehrung, bieten einen Vergleich an – oft deutlich unter Wert. Wer nicht vorbereitet ist, verliert die Dynamik.“

Die Taktik der Praxis besteht darin, die Kommunikation von Anfang an juristisch zu führen. Ein sauberer Widerspruch, eine belegte Begründung und ein aktuariell untermauerter Rechenweg schaffen Druck. Versicherer wissen: Wo ein Gutachten präzise ist, lohnt sich das Bestreiten kaum.

Schulte vergleicht es mit Schach:

„Jede Bewegung des Versicherers zielt darauf, Zeit zu gewinnen. Jede Bewegung des Kunden muss darauf zielen, Beweise zu sichern.“

Und die Praxis zeigt, dass sich Geduld lohnt. In vielen Fällen führt nicht der Prozess zum Erfolg, sondern das Vergleichsgespräch. Sobald Versicherer erkennen, dass die Gegenseite mit Fachgutachten und Prozessfinanzierung ausgestattet ist, steigt die Bereitschaft zur Einigung.

Lebensversicherung fürs Alter - Sven Enger

„Das Gutachten als Schlüssel“ – Wenn Zahlen zu Zeugen werden

Der Dreh- und Angelpunkt einer erfolgreichen Rückabwicklung ist das Gutachten. Hier begegnen sich Mathematik und Recht. Die Berechnung des tatsächlichen Anspruchs, inklusive Nutzungsersatz, Kostenkorrekturen und Überschussanteilen, schafft die Grundlage für Verhandlungen und Verfahren.

In der Praxis läuft das so: Der Kunde stellt Unterlagen bereit, ein unabhängiger Aktuar rekonstruiert die Kapitalflüsse, ein Jurist übersetzt die Zahlen in Rechtsansprüche. Je genauer das Gutachten, desto klarer die Position.

Sven Enger formuliert es so:

„Ein gutes Gutachten ist wie eine Lupe über Jahrzehnte – es zeigt, wo das Geld wirklich geflossen ist.“

Viele Versicherte entdecken erst dadurch, dass ihre Verträge deutlich unterperformt haben. Beispiel: Ein Vertrag über 30 Jahre, mit 40.000 Euro Einzahlung, ergibt laut Versicherer einen Rückkaufswert von 28.000 Euro. Das Gutachten weist hingegen aus, dass 35.000 Euro realistisch wären – plus Nutzungsersatz von 4.000 Euro.
Dieser Unterschied ist kein Rechenfehler, sondern systemisch: Kosten, Zins, Storno und Überschuss wurden über Jahre zulasten des Kunden verrechnet.

Dr. Schulte ergänzt:

„Die Mathematik ist in diesen Fällen das stärkste Beweismittel. Wo das Rechenwerk lückenlos ist, wird jeder Einwand entkräftet.“

„Gerechtigkeit auf Kredit“ – Die stille Macht der Prozessfinanzierer

Viele Betroffene schrecken vor Klagen zurück – zu teuer, zu riskant, zu ungewiss. Doch hier betritt ein neuer Akteur die Bühne: Prozessfinanzierer. Diese Unternehmen übernehmen die Kosten des Verfahrens, wenn die Erfolgsaussicht hoch genug ist, und erhalten im Erfolgsfall einen Anteil der Rückzahlung – meist zwischen 20 und 30 Prozent.

Enger hält das für „eine demokratische Innovation“:

„Prozessfinanzierung gibt dem Verbraucher das Werkzeug, das der Versicherung jahrzehntelang vorbehalten war – Kapital.“

Seit 2022 ist ein regelrechter Markt entstanden. Laut einer Auswertung des Bundesverbands der Prozessfinanzierer wurden allein im Jahr 2024 über 40 Millionen Euro Streitwert im Bereich Lebensversicherung finanziert – Tendenz steigend. Die Erfolgsquoten liegen je nach Anbieter zwischen 65 und 80 Prozent.

Das verändert die Verhandlungsposition radikal: Versicherer wissen, dass finanzierte Verfahren nicht abreißen. Sie rechnen damit, dass sich frühe Vergleiche lohnen, statt jahrelang Prozesskosten zu tragen. Für Verbraucher bedeutet das: Wer sich zusammentut – rechtlich, mathematisch und finanziell – gewinnt Gewicht.

„Vergleichskorridore – das Spiel mit der Mitte“

Nicht jede Rückabwicklung endet im Gerichtssaal. Die meisten münden in Vergleiche. Doch wie fair ist „fair“?  Dr. Schulte beschreibt die Kunst der Verhandlung:

„Ein guter Vergleich ist kein Kompromiss der Schwäche, sondern ein Sieg der Vernunft.“

Die realen Vergleichskorridore bewegen sich je nach Falltyp zwischen 60 und 90 Prozent des potenziellen Rückabwicklungswertes. Wer ein belastbares Gutachten vorlegt, erreicht die obere Grenze. Wer nur mit Behauptungen arbeitet, landet unten.

Beispiel: Ein Anspruch auf 40.000 Euro Rückzahlung. Der Versicherer bietet 25.000, der Gutachter rechnet 38.000. Der Vergleich landet bei 34.000 – das sind 9.000 Euro mehr als der Rückkaufswert. Für den Kunden oft entscheidend: kein Prozess, keine Wartezeit, kein Risiko.

Doch Vorsicht: Nicht jeder Vergleich ist klug. Einige Versicherer versuchen, Vergleiche mit „Verzichtsklauseln“ zu versehen, die künftige Ansprüche ausschließen. Schulte warnt:

„Jede Klausel muss juristisch geprüft werden. Ein schneller Abschluss kann später teuer werden.“

„Die Einwände der Gegenseite“ — Rhetorik der Vernebelung

Wenn Versicherer reagieren, tun sie das größtenteils mit fünf Standardargumenten:
Die Belehrung sei ordnungsgemäß, der Anspruch verwirkt, der Kunde habe den Vertrag verstanden, der Nutzungsersatz sei überhöht und die Rückabwicklung führe zu unbilliger Härte.

Schulte nennt das „die Rhetorik der Vernebelung“:

„Man versucht, Unsicherheit zu erzeugen, wo Klarheit herrscht. Doch wer die EuGH- und BGH-Rechtsprechung kennt, weiß: Formfehler bleiben Formfehler.“

Enger fügt hinzu, dass die Branche sich oft selbst im Weg steht:

„Anstatt das Vertrauen zurückzugewinnen, verteidigt man alte Fehler. Dabei wäre Transparenz die einzige Rettung.“

Ein besonders häufiger Einwand betrifft den Nutzungsersatz. Versicherer behaupten, sie hätten keine nennenswerten Erträge erzielt, ein Argument, das bei genauer Betrachtung selten standhält. Schulte sagt:

„Jeder Versicherer verwaltet Milliarden. Zu behaupten, er habe daraus keine Nutzungen gezogen, ist wie zu sagen, ein Bäcker habe kein Brot verkauft.“

Diese rhetorische Defensive zeigt, dass Rückabwicklung mehr ist als eine juristische Auseinandersetzung – sie ist ein Kulturkampf um Glaubwürdigkeit.

„Wenn Verbraucher mit den Füßen abstimmen“ – Der Druck wächst

Das Phänomen breitet sich aus. Laut aktuellen Schätzungen der Verbraucherzentrale könnten bis zu 60 Prozent der zwischen 1994 und 2007 abgeschlossenen Lebensversicherungen potenziell rückabwicklungsfähig sein. Das betrifft Millionen Kunden und ein Finanzvolumen in dreistelliger Milliardenhöhe.

Seit 2021 ist die Zahl der Rückabwicklungsanfragen jährlich zweistellig gewachsen. Plattformen wie die auxinum GmbH haben sich darauf spezialisiert, Betroffenen den Zugang zu Gutachten, Anwälten und Prozessfinanzierern zu erleichtern – ein Ökosystem der Aufklärung.

Enger fasst es nüchtern zusammen:

„Die Menschen stimmen mit den Füßen ab. Sie verlassen ein System, dem sie jahrzehntelang blind vertraut haben.“

Diese stille Abstimmung zwingt die Branche zur Reflexion. Versicherer müssen nicht nur reagieren, sie müssen sich neu erfinden. Verträge werden transparenter, Kostenmodelle überprüft, Belehrungen neu formuliert. Die Rückabwicklung ist damit kein Ende, sie ist der Beginn einer neuen Form von Vertragsehrlichkeit.

Recht bei Lebensversicherungen - Dr Thomas Schulte

„Das Erwachen der Verantwortung“ – Eine Zukunft zwischen Transparenz und Vertrauen

Dr. Schulte sieht in der Entwicklung einen Wendepunkt:

„Wir erleben den Moment, in dem Recht und Mathematik zusammen den Verbraucher emanzipieren.“

Was einst kompliziert und unantastbar schien, wird heute durchleuchtet, verstanden, angefochten. Die Branche kann sich dem nicht mehr entziehen. Jeder erfolgreiche Rückabwicklungsfall ist ein Signal an Millionen andere: Nachrechnen lohnt sich.

Sven Enger beschreibt den Paradigmenwechsel so:

„Die Lebensversicherung war lange ein Glaubensprodukt. Jetzt wird sie wieder zu dem, was sie sein sollte: ein Finanzprodukt, das Rechenschaft ablegen muss.“

Die Zukunft liegt in Kooperation, nicht in Konfrontation. Versicherer, die ihre Verträge offenlegen und fehlerhafte Altbestände transparent bereinigen, werden Vertrauen zurückgewinnen. Alle anderen werden es verlieren – durch die Kraft der Mathematik und der Öffentlichkeit.

„Fazit: Das neue Gleichgewicht“

Rückabwicklung ist längst kein juristisches Randthema mehr. Sie ist ein Symptom – und eine Chance. Sie zeigt, dass Machtverhältnisse kippen können, wenn Wissen sich demokratisiert.
Wo einst die Versicherung diktierte, rechnet heute der Kunde.

Mit den Stimmen von Sven Enger und Dr. Thomas Schulte wird deutlich: Das alte Modell, Vertrauen gegen Intransparenz, trägt nicht mehr. Die neue Zeit verlangt Nachvollziehbarkeit, Fairness, Beweisbarkeit.

Was bleibt, ist mehr als ein Streit um Paragrafen. Es ist eine Bewegung: vom blinden Glauben an die Versicherung hin zur mündigen Selbstprüfung. Und vielleicht ist genau das die schönste Ironie dieser Geschichte: Dass ausgerechnet dort, wo Menschen jahrzehntelang vertraut haben, nun das Vertrauen in Zahlen sie befreit.

V.i.S.d.P

Dr. Rainer Schreiber
Dozent, Erwachsenenbildung & Personalberater

Über den Autor:

Personalberater und Honorardozent Dr. Rainer Schreiber, mit Studium der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanzierung, Controlling, Personal- und Ausbildungswesen. Der Blog schreiber-bildung.de bietet Themen rund um Bildung, Weiterbildung und Karrierechancen. Sein Interesse liegt in der beruflichen Erwachsenenbildung und er publiziert zum Thema Personalberatung, demografischer Wandel und Wirtschaftspolitik. 

Kontakt

Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte
E-Mail: law@meet-an-expert.com

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