Die Lebensversicherung war jahrzehntelang der deutsche Sparklassiker. Garantiezins, Überschussbeteiligung, steuerliche Vorteile – das Dreiklang-Versprechen klang nach Sicherheit. Heute steht es unter Druck. Viele Verträge sind rechnerisch unattraktiv geworden, während die Zinswende alte Kalkulationen sprengt und neue Produkte nur verhalten tragen. Gleichzeitig holen EuGH- und BGH-Rechtsprechung eine Praxis ein, die zwischen 1994 und 2007 in Deutschland üblich war: das Policenmodell. Für anspruchsvolle Leser beginnt hier kein Alarmismus, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme – und eine Anleitung, wie aus einer zähen Belastung ein rechtlich begründeter Anspruch werden kann.
Was, wenn die „sichere“ Police ein Renditekiller ist?
Die betriebswirtschaftliche Ernüchterung beginnt mit Zahlen: 2023 zahlte die Lebensversicherungsbranche in Deutschland Leistungen von rund 99 Milliarden Euro aus – ein Plus von 8,7 Prozent. Gleichzeitig sanken die Beitragseinnahmen um 5,0 Prozent auf 92,2 Milliarden Euro; Einmalbeiträge gingen sogar um 15,7 Prozent zurück. Das tägliche Volumen der Auszahlungen lag bei etwa 271 Millionen Euro – viel Bewegung, wenig Euphorie. Der Gegenwind kommt aus steigenden Zinsen und einer zögerlichen Nachfrage, die das historische Produktnarrativ nicht mehr automatisch trägt. Die Daten des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) belegen den Spagat zwischen hohen Auszahlungen und knapperer Beitragsbasis deutlich.
Die nüchterne Konsequenz: Wer jahrzehntelang hohe Abschluss- und Verwaltungskosten trug und seine Police in einer Niedrigzinsdekade besparen musste, blickt heute häufig auf Renditen, die hinter Tagesgeld- und Staatsanleiherenditen zurückfallen. Das ist kein Skandal-Vokabular, sondern Finanzmathematik. Es erklärt, warum immer mehr Versicherte nicht mehr kündigen, sondern rechtlich prüfen lassen – denn Kündigung realisiert oft nur den Rückkaufswert, während eine Rückabwicklung den Vertrag rechtlich „auf Null“ stellt und damit ökonomisch eine ganz andere Ausgangslage schafft.

Policenmodell: juristische Altlast oder Sprungbrett für Ansprüche?
Der juristische Hebel liegt in der Vergangenheit: Beim Policenmodell erhielten Verbraucher ihre Unterlagen erst nach Vertragsschluss; die Widerspruchsfrist lief ab Zustellung der Police. Der Europäische Gerichtshof kassierte diese Praxis – die Ausschlussfristen kollidierten mit dem Unionsrecht, weil die Information des Verbrauchers nicht vertragskonstitutiv vorgelagert war. Die Folge: Ein fehlerhaft informierter Versicherungsnehmer konnte auch Jahre später widersprechen, weil seine Frist nie in Gang gesetzt wurde. Betroffen sind insbesondere Abschlüsse zwischen 1994 und 2007; 2008 wurde das Modell gesetzlich abgeschafft.
Die BaFin ordnet die Leitentscheide des BGH einsortierend ein: Widerspruch gegen nach dem Policenmodell abgeschlossene Verträge ist möglich, wenn Belehrungen fehlerhaft waren; der BGH hat dies in Grundsatzurteilen konkretisiert (IV ZR 76/11; IV ZR 73/13). Damit ist der Weg zur Rückabwicklung grundsätzlich eröffnet – mit Rückzahlung aller Prämien abzüglich Risikoanteilen sowie Herausgabe gezogener Nutzungen.
Wohin die Reise beim BGH geht
Neuere BGH-Entscheidungen justieren die Leitplanken. So befasste sich der IV. Zivilsenat 2024 mit einem nach Policenmodell abgeschlossenen Vertrag und der Frage, ob die Geltendmachung der Rückabwicklung rechtsmissbräuchlich sein kann, etwa wenn die Police als Kreditsicherheit eingesetzt wurde. Das Gericht bestätigt den Grundsatz der Rückabwicklung bei fehlerhafter Belehrung, betont aber, dass Treu-und-Glauben-Einwände im Einzelfall durchgreifen können. Ergebnis: Kein Automatismus, wohl aber ein weiterhin belastbares Anspruchsregime – juristische Präzision ist Pflicht.
Der ökonomische Kern: Wie viel ist eine Rückabwicklung wert?
Für Versicherte ist der Unterschied zwischen Kündigung und Rückabwicklung der Dreh- und Angelpunkt. Kündigung: Auszahlung des Rückkaufswertes, der regelmäßig unter den eingezahlten Beiträgen liegt, weil Abschluss- und Verwaltungskosten sowie Stornoabzüge wirken. Rückabwicklung: Rückzahlung sämtlicher Prämien, Abzug nur der tatsächlich verbrauchten Risikokosten (z. B. Todesfallschutz) plus Herausgabe der Nutzungen, die der Versicherer aus den Beiträgen gezogen hat. Der Barwert kann so deutlich oberhalb des Rückkaufswertes liegen. Diese Systematik ist ständige Rechtsprechungslinie und folgt dem Bereicherungsrecht – wer Leistungen ohne Rechtsgrund erhielt, muss das Erlangte herausgeben. Dass die Zinswende die Nutzungsherausgabe methodisch belebt, liegt auf der Hand: Je höher die nachweisbaren Kapitalerträge des Versicherers, desto größer das Potenzial der Nachvergütung.

Sven Enger: Vom Versicherer zum Anwalt der Versicherten
Sven Enger, Geschäftsführer der auxinum GmbH, kennt die Maschinenräume der Branche: Ehemals im Vorstand mehrerer Lebensversicherer, wechselt er bewusst die Seite und begleitet heute Verbraucher. Seine Diagnose ist pointiert: Das System funktionierte lange zulasten der Kunden – intransparente Kosten, komplexe Produkte, unzureichende Aufklärung. Genau hier setzt er an: Aufklärung, Datentransparenz, Durchsetzung individueller Ansprüche. Die Positionierung als „Seitenwechsler“ schärft die Debattenlage: Wer die internen Mechanismen kennt, kann Verbrauchern helfen, die richtigen Stellschrauben zu bedienen – angefangen bei der Einsicht in die Vertrags- und Kostenarchitektur, bis zur gerichtsfesten Aufbereitung von Nutzungsherausgaben.
Prof. Philipp Schade: Aktuarische Brille statt Marketing-Narrativ
Der renommierte Versicherungsmathematiker Prof. Philipp Schade, dessen Aktuariat sich kritisch zu versicherungsförmigen Altersvorsorgelösungen positioniert, rückt die Mathematik in den Mittelpunkt: Viele Kunden bekommen weniger, als ihnen nach Vertrag und Kalkulation zustünde – ohne forensische aktuariellen Prüfungen bleibt das jedoch unsichtbar. Schade bewertet Lebensversicherungsverträge nicht nach Prospekt, sondern nach tatsächlicher Anspruchslage und bilanzieller Realität. Seine Expertise ist für Rückabwicklungen doppelt relevant: erstens bei der Ermittlung der reinen Risikoanteile, zweitens bei der rechnerischen Ableitung der Nutzungen, die Versicherer aus den Beiträgen erzielt haben. Damit wird die Abrechnung zur Sachverständigenfrage – und Sachverständige entscheiden Streitwerte.
Dr. Thomas Schulte: Juristische Stringenz vom Widerspruch bis zum Vergleich
Aus anwaltlicher Sicht ist die Rückabwicklung kein Formularverfahren, sondern ein Pfad mit Weichen. Zunächst die Vorprüfung: Vertragsdatum, Belehrungstexte, Dokumentation des Policenversands. Sodann die Anspruchsanmeldung, die bereits mit einer schlüssigen Berechnung arbeiten sollte. Der entscheidende Unterschied in der Fallbearbeitung: Nicht die moralische Wertung, sondern die belastbare rechtliche Argumentation trägt – im Idealfall in Kombination mit einem versicherungsmathematischen Gutachten. Dr. Thomas Schulte hat diese Kombination in frühen Verfahren etabliert und begleitet Mandanten bis in den Vergleich oder das Urteil. Das ist kein „Widerrufsjoker“ im populären Sinne, sondern ein strukturiertes Durchgriffsrecht auf Grundlage von Unionsrecht und nationaler Judikatur.
Die Gegenrechnung der Versicherer – und wie man sie knackt
Versicherer reagieren mit drei Standardlinien. Erstens: Verwirkung und Rechtsmissbrauch – wer jahrelang bedient oder die Police als Kreditsicherheit genutzt habe, sei schutzwürdig gebunden. Der BGH lässt Treu-und-Glauben-Einwände zu, bindet sie aber streng an den Einzelfall; der Einwand ersetzt nicht die fehlerfreie Belehrung. Zweitens: Minimierung der Nutzungsherausgabe – oft wird pauschal mit Niedrigzinsphasen argumentiert. Hier trennt die forensische Aktuarik Spreu von Weizen, indem sie Portfolioerträge nachvollzieht. Drittens: Berechnung der Risikoanteile großzügig zulasten des Kunden – auch das ist eine Zahlfrage, nicht Meinungsrecht. Präzision in der Beweisführung entscheidet über Tausender.
Marktdynamik 2024/2025: Zinswende, Produktwandel, Vertrauensfrage
Makroperspektivisch wirken zwei Kräfte gegeneinander. Die Zinswende verbessert die künftigen Anlageergebnisse der Versicherer, gleichzeitig macht sie alternative, einfachere Sparformen wieder attraktiv. Ein Dossier der Versicherungsforen Leipzig beschreibt treffend die Ambivalenz: 2023 war geprägt von Inflation und Zinsvolatilität, 2024 zeigen sich erste Signale eines besseren Umfelds – aber die Branche blickt mit gemischten Gefühlen nach vorn. Für Altverträge ändert das wenig: Ihre Kosten- und Garantiestruktur ist fest, ihr Performance-Rückstand lässt sich nachträglich nicht wegverwalten. Für Neuabschlüsse erhöht sich der Druck auf Transparenz, Kostenfairness und verständliche Garantien. Die Vertrauensfrage wird zur Produktfrage.

Zahlen, die den Unterschied machen: Was Anspruch wirklich bedeutet
Die Gretchenfrage lautet: Wie groß ist der Mehrwert der Rückabwicklung gegenüber der Kündigung? Pauschale Prozentzahlen taugen hier wenig; belastbar sind nur Einzelfallrechnungen. Gleichwohl zeigen forensische Erfahrungswerte, dass die Differenz häufig fünfstellig ausfallen kann, wenn lange Laufzeiten, hohe Beitragssummen und deutliche Kapitalnutzungen zusammentreffen. Der GDV-Blick in die Kassen zeigt zudem, wie groß der Kuchen ist, aus dem Nutzungen erwirtschaftet wurden – die 99 Milliarden Euro Auszahlungen 2023 sind nicht direkt die Bemessungsgrundlage, illustrieren aber die Kapitalströme, die eine signifikante Nutzungsherausgabe plausibel machen.
Strategie statt Hoffnung: So wird die Rückabwicklung zur Erfolgsgeschichte
Die Erfolgsrezeptur ist interdisziplinär. Zuerst die juristische Prüfung der Belehrungslage, dann die aktuarische Herleitung einer sauberen Abrechnung, flankiert durch die strategische Kommunikation mit dem Versicherer. Hier treffen die Rollen der drei Experten aufeinander: Engers Markteinblick in Kosten- und Prozesslogiken der Anbieter, Schades forensische Zahlenhoheit und Schultes forensisch-juristische Durchsetzungskraft. Der Versicherer versteht diese Sprache – und vergleicht eher dort, wo Anspruch und Beweisführung deckungsgleich sind.
Zukunftsaussichten: Von der Altlast zur Blaupause für Fairness
Wird die Rückabwicklung in fünf Jahren noch ein Thema sein? Ja – aber der Schwerpunkt verschiebt sich. Die großen Policenmodell-Jahrgänge sind endlich, doch die Zinswende wird alte Renditelücken nicht schließen. Was bleibt, ist der Anspruch auf korrektes, transparentes Produktdesign. Hier liegt die Zukunft: Produkte, die Kosten klar ausweisen, Garantien ehrlich bepreisen und den Kunden nicht mit Nebenrechnungen überfordern. Der Markt sortiert sich, und er wird sich an denen orientieren, die Beweislasten nicht verstecken müssen.
Für Verbraucher heißt das zweierlei. Erstens: Wer einen Altvertrag aus der Policenmodell-Ära hält, sollte jetzt prüfen lassen – Recht hat Fristen, Akten nicht. Zweitens: Wer heute neu spart, sollte Kosten- und Garantiestruktur so verstehen, dass er sie in zwei Sätzen erklären kann. Wenn das nicht gelingt, ist das kein Bildungs-, sondern ein Produktproblem.
Fazit: Die Stunde der informierten Entscheidung
Die Rückabwicklung von Lebensversicherungen ist kein juristischer Taschenspielertrick, sondern die Konsequenz aus Unionsrecht, höchstrichterlicher Rechtsprechung und konsequenter Mathematik. Anspruchsvolle Leser müssen keine Schlagworte lieben; sie benötigen Zahlen, Systematik und Beweis. Genau dort findet die Debatte 2025 statt. Der Markt liefert die Volumina, die Gerichte die Leitplanken, die Aktuare, die Rechenwerke – und die betroffenen Verbraucher den Anlass, aus Verträgen wieder Vermögen zu machen. Wer jetzt sorgfältig prüft, entscheidet nicht gegen die Lebensversicherung, sondern für sein Recht.
V.i.S.d.P
Dr. Rainer Schreiber
Dozent, Erwachsenenbildung & Personalberater
Über den Autor:
Personalberater und Honorardozent Dr. Rainer Schreiber, mit Studium der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanzierung, Controlling, Personal- und Ausbildungswesen. Der Blog schreiber-bildung.de bietet Themen rund um Bildung, Weiterbildung und Karrierechancen. Sein Interesse liegt in der beruflichen Erwachsenenbildung und er publiziert zum Thema Personalberatung, demografischer Wandel und Wirtschaftspolitik.
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