Lebensversicherungen unter juristischer Lupe- Warum das Widerrufsrecht noch Jahrzehnte später lebt - ABOWI Law

Lebensversicherungen unter juristischer Lupe: Warum das Widerrufsrecht noch Jahrzehnte später lebt

Vertrauen, das nicht gehalten wurde: Wie Millionen Deutsche beim Abschluss ihrer Lebensversicherung falsch belehrt wurden, warum der Europäische Gerichtshof das „ewige Widerrufsrecht“ ermöglichte und wie Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte aus Berlin Verbrauchern hilft, ihr Geld zurückzubekommen.

Ein Vertrag fürs Leben? Die große Hoffnung der 1990er und 2000er Jahre

In den 1990er Jahren und frühen 2000ern erlebte die private Lebensversicherung in Deutschland einen beispiellosen Boom. Nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) lag die Zahl der abgeschlossenen Lebensversicherungsverträge im Jahr 2000 bei über 94 Millionen. Viele dieser Verträge wurden als Kombination aus Altersvorsorge und Kapitalanlage vermarktet. Der Staat förderte den Abschluss durch steuerliche Vorteile, insbesondere über das Einkommensteuergesetz §10 (alte Fassung), was für viele Bürger einen weiteren Anreiz schuf. Banken, Sparkassen und Versicherungsvermittler überboten sich mit Versprechen: „Sicherheit fürs Alter“, „garantierte Verzinsung von 4 %“ oder „Steuern sparen und Vermögen aufbauen“.

Ein Großteil dieser Verträge wurde im sogenannten Policenmodell abgeschlossen: Der Antrag wurde vor Ort unterzeichnet, der Vertrag aber erst später durch das Zusenden der Policenunterlagen samt Widerrufsbelehrung wirksam. Für die meisten Verbraucher war das eine reine Formalität. Es fehlte in der Regel das juristische Wissen, um die Tragweite der Vertragsgestaltung zu erkennen.

Doch genau hier lag das rechtliche Problem: In einer Vielzahl dieser Fälle wurden die Versicherungsnehmer nicht ordnungsgemäß über ihr Widerrufsrecht belehrt – obwohl dies seit der Umsetzung der europäischen Verbraucherschutzrichtlinien Pflicht war (z. B. Richtlinie 90/619/EWG und später 2002/83/EG). Häufig fehlten Angaben zur Frist, zur Form des Widerrufs oder zur zuständigen Stelle.

Die Folge: Verbraucher saßen faktisch in einer juristischen Falle. Einmal abgeschlossen, war der Rücktritt vom Vertrag kaum mehr möglich. Selbst wenn die Policenunterlagen Ungereimtheiten enthielten oder die versprochene Rendite ausblieb, konnten die Betroffenen sich nicht mehr lösen. Diese Situation traf Millionen Menschen – und das Vertrauen in die vermeintlich sichere Altersvorsorge wurde über Jahre hinweg rechtlich nicht geschützt.

Die Wende durch den Europäischen Gerichtshof: Urteil vom 19.12.2013 (C-209/12)

Was kaum einer wusste: Das deutsche Versicherungsvertragsgesetz enthielt mit § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. eine Regelung, die das Widerrufsrecht auf ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie beschränkte. Selbst bei unvollständiger oder fehlerhafter Widerrufsbelehrung erlosch nach dieser Regelung das Widerrufsrecht unwiderruflich. Für Verbraucher bedeutete das: Auch wenn sie nie korrekt über ihre Rechte informiert wurden, waren sie rechtlich dauerhaft an den Vertrag gebunden.

Diese Regelung betraf zig Millionen Verträge, insbesondere solche, die zwischen 1994 und 2007 abgeschlossen wurden – laut Schätzungen von Verbraucherzentralen waren rund 60 Prozent dieser Verträge fehlerhaft belehrt. Die finanzielle Tragweite war enorm: Allein im Zeitraum 2000 bis 2007 wurden jährlich Lebensversicherungen mit Beitragssummen von über 60 Milliarden Euro neu abgeschlossen.

Doch der Europäische Gerichtshof (EuGH) stoppte diesen Zustand am 19. Dezember 2013. In der Rechtssache C-209/12 entschied das Gericht, dass die einjährige Ausschlussfrist des § 5a VVG a.F. gegen europäisches Verbraucherrecht verstößt. Grundlage dieser Entscheidung waren die Zweite und Dritte Lebensversicherungsrichtlinie (92/96/EWG und 2002/83/EG), die den Mitgliedstaaten verbindlich vorschreiben, dass Verbraucher nur dann an einen Vertrag gebunden sind, wenn sie korrekt und umfassend belehrt wurden.

Die juristische Folge war ein Paukenschlag: Die Ausschlussfrist durfte nicht mehr angewendet werden, wenn eine fehlerhafte Belehrung vorlag. Damit wurde der Weg frei für das sogenannte „ewige Widerrufsrecht“. Verträge, die jahrelang als abgeschlossen galten, konnten plötzlich rückabgewickelt werden.

Für Millionen Verbraucher eröffnete sich damit eine zweite Chance. Und für die Versicherungswirtschaft entstand ein milliardenschweres Haftungsrisiko.

Der BGH folgt: Verbraucher bekommen recht – auch Jahrzehnte später

Der Bundesgerichtshof (BGH) setzte die europarechtlichen Vorgaben mit bemerkenswerter Klarheit um. In einer Reihe von Grundsatzurteilen, insbesondere im Urteil vom 07. Mai 2014 (Az. IV ZR 76/11), entschied das höchste deutsche Zivilgericht, dass die in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. vorgesehene Ausschlussfrist nicht gilt, wenn die Widerrufsbelehrung nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprach. Das bedeutete für Millionen Betroffene: Das Widerrufsrecht lebt fort – selbst Jahrzehnte nach Vertragsschluss.

Der BGH begründete seine Entscheidung mit dem überragenden Schutzinteresse der Verbraucher und verwies dabei auf die bindenden europarechtlichen Vorgaben. Denn der Abschluss einer Lebensversicherung ist nicht nur ein wirtschaftlich schwerwiegender Schritt – er setzt auch ein hohes Maß an rechtlicher Aufklärung voraus. Wenn diese fehlt, darf das nicht zulasten des Versicherungsnehmers gehen.

Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht aus Berlin, gehört zu den juristischen Wegbereitern dieser Rechtsprechung. Schon lange vor dem Urteil begleitete er Mandanten, deren Policen fehlerhafte Widerrufsbelehrungen enthielten. Seine frühe Kritik an § 5a VVG a.F. und seine praktische Erfahrung flossen in zahlreiche Verfahren ein, die die Weichen für die verbraucherfreundliche Entwicklung stellten.

„Diese Rechtsprechung war überfällig. Die Versicherungswirtschaft hat sich über Jahre auf eine Frist berufen, die dem europäischen Verbraucherschutz diametral widersprach. Der BGH hat diese Schieflage korrigiert – und so das Vertrauen in die Rechtsprechung gestärkt.“
– Dr. Thomas Schulte, Berlin

Trotz dieser Klarstellung ist das Thema heute noch vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern unbekannt. Noch immer ruhen Millionen potenziell rückabwickelbarer Verträge in Ordnern deutscher Haushalte. Dabei könnten Betroffene durch den Widerruf oft mehrere Tausend Euro zurückerhalten – weit mehr als bei einer bloßen Kündigung. Die Rechtslage ist klar, aber die Information darüber hat bislang nicht alle erreicht.

Die Perspektive der Verbraucher: Gekündigt, verloren, betrogen? Verlorene Rendite, enttäuschte Hoffnung – und eine zweite Chance für Millionen

Viele Verbraucher, die in den vergangenen Jahrzehnten ihre Lebensversicherung aus Frust kündigten, mussten empfindliche finanzielle Verluste hinnehmen. Der sogenannte Rückkaufswert, den die Versicherer bei Vertragsauflösung auszahlen, lag häufig deutlich unter den eingezahlten Beiträgen – teilweise um 20 bis 40 Prozent darunter. Hinzu kamen abgezogene Abschluss- und Verwaltungskosten, die den wirtschaftlichen Schaden für die Kunden zusätzlich verschärften. Das Resultat: Wut, Enttäuschung und das Gefühl, betrogen worden zu sein. Viele Menschen verloren nicht nur Geld, sondern auch das Vertrauen in das System der privaten Altersvorsorge.

Heute ergibt sich für diese Betroffenen eine neue Perspektive: Wer nachweislich nicht ordnungsgemäß über das Widerrufsrecht belehrt wurde, kann den Vertrag auch heute noch wirksam widerrufen – selbst, wenn der Vertrag bereits vor Jahren gekündigt wurde. Ziel des Widerrufs ist die vollständige Rückabwicklung des Vertragsverhältnisses. Das bedeutet:

  • Sämtliche gezahlten Prämien werden erstattet,
  • zuzüglich Nutzungsersatz, also dem Gewinn, den der Versicherer aus den Beiträgen erwirtschaftet hat,
  • abzüglich lediglich des tatsächlichen Werts des Risikoschutzes (z. B. Todesfallabsicherung).

Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Versicherungsnehmerin aus Berlin hatte im Jahr 2001 eine Kapitallebensversicherung abgeschlossen und bis 2016 insgesamt 22.800 Euro eingezahlt. Bei Kündigung erhielt sie lediglich 15.600 Euro Rückkaufswert. Nach anwaltlicher Prüfung stellte sich heraus: Die Widerrufsbelehrung war fehlerhaft. Durch den erfolgreichen Widerruf konnte sie rund 25.700 Euro zurückfordern – also über 10.000 Euro mehr, als ursprünglich von der Versicherung ausgezahlt worden war.

Diese Möglichkeit eröffnet sich derzeit noch tausenden Menschen in Deutschland. Die Rechtsprechung schützt die, die jahrelang im Unklaren gelassen wurden. Doch diese Rechte verjähren nicht automatisch – sie müssen aktiv eingefordert werden.

Verbraucher sollten daher ihre alten Verträge nicht vergessen, sondern prüfen lassen. Denn mit dem Widerruf kann ein großer Schritt zur finanziellen Gerechtigkeit gemacht werden – sogar Jahrzehnte nach Vertragsabschluss.

Die Sicht der Versicherer: Zwischen Rechtssicherheit und Milliardenrisiken

Die Entscheidung des EuGH und ihre Umsetzung durch den BGH versetzte die Versicherungsbranche in Alarmbereitschaft. Hinter verschlossenen Türen wurde von „Rückabwicklung in Milliardenhöhe“ gesprochen.

Viele Gesellschaften versuchten, durch neue Vertragswerke, Nachbelehrungen und Kulanzangebote Schaden zu begrenzen. Einige wehrten sich gerichtlich. Doch die grundsätzliche Rechtslage ist eindeutig: Bei fehlerhafter Belehrung lebt das Widerrufsrecht fort – auch Jahrzehnte später.

„Die Versicherungswirtschaft muss akzeptieren, dass fehlerhafte Belehrungen juristische Konsequenzen haben. Vertrauen darf keine Einbahnstraße sein.“
– Dr. Thomas Schulte

Juristische Fragen und Chancen: Was ist heute möglich?

Dr. Schulte beantwortet die wichtigsten Fragen aus seiner Beratungspraxis:

  1. Wer ist betroffen?
    Alle, die zwischen dem 29.07.1994 und dem 31.12.2007 eine Lebens-, Renten- oder Zusatzversicherung abgeschlossen haben – vorwiegend im Policenmodell.
  2. Was wird zurückgezahlt?
    Alle gezahlten Prämien plus Nutzungsersatz. Der Versicherer darf lediglich den Wert des Risikoschutzes (z. B. Todesfallschutz) einbehalten.
  3. Ist der Widerruf heute noch möglich?
    Ja, sofern die Widerrufsbelehrung fehlerhaft war. Die Frist von einem Jahr gilt nicht mehr. Aber: In Einzelfällen kann Verwirkung eingewendet werden – je nach Verhalten des Kunden.
  4. Muss man klagen?
    Oft reicht eine anwaltliche Aufforderung. Wenn der Versicherer ablehnt, ist eine Klage aber der Weg zur Durchsetzung der Ansprüche.

Ein Blick in die Zukunft: Schlummernde Verträge und vergessene Chancen

Tausende Versicherungsnehmer wissen bis heute nichts von ihrem Recht. Ihre Verträge schlummern in Ordnern, über Jahre hinweg gekündigt, vergessen, verdrängt.

Dabei ist die Chance real, verlorenes Kapital zurückzuerhalten – auch Jahrzehnte später.

„Unsere Mandanten berichten oft von Erleichterung, Wut und dem Gefühl, sich endlich gewehrt zu haben. Das Recht wirkt – wenn man es nutzt.“ – Dr. Thomas Schulte

Fazit: Wer sein Recht kennt, kann Verluste verhindern

Das „ewige Widerrufsrecht“ ist keine juristische Spitzfindigkeit, sondern ein Instrument des Verbraucherschutzes. Es korrigiert jahrzehntelange Missstände, schafft Gerechtigkeit und gibt Verbrauchern eine zweite Chance.

Jetzt ist die Zeit, Verträge zu prüfen, zu handeln – und zurückzuholen, was einem zusteht.

Autor: Mgr. Valentin Schulte, Volkswirt B.Sc., stud. jur, 

Kontakt:

Rechtsanwaltskanzlei Dr. Thomas Schulte
Malteserstraße 170
12277 Berlin

Telefon: +49 30 221922020
E-Mail: law@meet-an-expert.com

Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt in Berlin und leitender Vertrauensanwalt des Netzwerks ABOWI Law, unterstützt Sie bei rechtlichen Fragen und Problemen im Bereich digitaler Kommunikation, Vertragsrecht und moderner Missverständnisse. Insbesondere helfen wir bei der rechtlichen Einordnung von WhatsApp-Nachrichten, Emojis und deren Bedeutung in Vertragsverhandlungen. Vertrauen Sie auf unsere langjährige Erfahrung, um rechtssichere Lösungen zu finden und Ihre Interessen zu wahren.

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