„Wenn Zahlen sprechen“ – Das Rechenherz der Lebensversicherung

Wer sich mit Lebensversicherungen beschäftigt, betritt eine Welt, in der Mathematik und Psychologie unauflöslich verwoben sind. Zahlen wirken hier wie stille Erzähler: Sie verraten, wie Verträge kalkuliert, wie Risiken bepreist und wie Versprechen erfüllt oder verfehlt werden. Im zweiten Teil unserer Serie tauchen wir ein in dieses „Rechenherz“ – mit einem Begleiter, der die Sprache der Zahlen fließend spricht: Prof. Dr. Philipp Schade, Aktuar, Gutachter und Hochschullehrer. Er erklärt, warum das Verständnis von Zins, Kosten, Überschuss, Storno und Nutzungsersatz über den Ausgang jeder Rückabwicklung entscheidet – und warum Mathematik in der Lebensversicherung niemals neutral ist.

„Die stille Macht der Zinsen“ – wie ein Prozent die Welt verändert

Es beginnt immer mit dem Zins. Der Höchstrechnungszins ist der Taktgeber der Branche – eine unscheinbare Zahl, die ganze Lebensläufe beeinflusst. Jahrzehntelang lag er bei vier Prozent, dann kam der freie Fall: 1,75 %, 1,25 %, 0,9 %, schließlich 0,25 %. Nun, 2025, steigt er erstmals wieder auf 1 %. Ein symbolischer, aber psychologisch wichtiger Schritt. Doch was bedeutet das für Altverträge – und für Rückabwicklungen?

Prof. Schade erklärt:

„Der Zins ist das Fundament jedes Vertrags. Wenn er sich ändert, verändert sich die Gegenwart, nicht die Vergangenheit – aber er legt offen, ob frühere Annahmen realistisch waren.“

Bei Rückabwicklungen spielt der Rechnungszins eine doppelte Rolle: Er definiert, wie die Versicherer kalkulierten, und er bestimmt, wie hoch der Nutzungsersatz bei fehlerhafter Belehrung sein kann. Denn wer Beiträge über Jahre entgegennahm, hat daraus Erträge gezogen. Diese müssen rechnerisch ermittelt werden – und das ist kein Dreisatz, sondern eine Kunst.

Schade illustriert das mit einer Sensitivitätsrechnung:
Ein Vertrag von 2002, 10.000 € Beiträge, garantierter Zins 3,25 %. Wenn der Versicherer jährlich 1,5 % an interner Verzinsung erzielte, ergibt sich über 20 Jahre ein Kapital von rund 13.500 €. Wurde der Vertrag fehlerhaft belehrt und rückabgewickelt, kann der Kunde verlangen, dass ihm dieser Zinsertrag anteilig gutgeschrieben wird – statt nur den Rückkaufswert zu erhalten. Kleine Unterschiede im Zinssatz entfalten dabei enorme Wirkung: Eine Differenz von nur einem halben Prozentpunkt kann über Jahrzehnte mehrere Tausend Euro ausmachen.

So zeigt sich: Rückabwicklung ist nicht nur Juristerei, sondern auch Zinsarithmetik.

„Kosten fressen Vertrauen“ – wie stille Abzüge stille Verträge entwerten

Kosten sind das zweite große Kapitel. Während Zinsen Hoffnung nähren, zersetzen Kosten still und stetig den Ertrag. In den 1990er- und 2000er-Jahren war die Kostenstruktur vieler Policen undurchsichtig – Abschlusskosten, Verwaltungskosten, Risikokosten, teils versteckt in den Überschüssen. Prof. Schade spricht hier von einer „mathematisch geschönten Welt“.

„Viele Verträge wurden kalkuliert, als Zinsen noch reichlich waren. Kosten wurden als fix betrachtet. Als die Zinsen fielen, blieb die Kostenquote – und plötzlich fraß sie die Rendite auf.“

Ein Beispiel: Ein Kunde zahlt 100 € Monatsbeitrag. Davon gehen laut Vertragsbedingungen 4 % in Abschlusskosten und jährlich 1,5 % in Verwaltung ab. Es werden alle jemals zu zahlenden Monatsbeiträge summiert und im Zeitpunkt 0, also zum Vertragsbeginn, wird dieser Gesamtbetrag abgezogen. Was nach 4 % je Monatsbeitrag klingt, ist damit über 20 Jahre effektiv deutlich mehr. Bei angenommener 4%-iger Verzinsung als Rechnungszinssatz bspw. betrüge der Barwert (also den auf den Zeitpunkt 0 bezogenen Wert) der Abschlusskosten der je Monatsbeitrag laufend abgezogenen Kosten 662,29 EUR. Der eigentliche Kostenabzug zum Vertragsbeginn beträgt aber 960 EUR (240 × 100 × 0,04), mithin ein Plus von +44,9 %. Bzw. umgerechnet: Statt 4 % je Monatsbeitrag entspräche das eigentlich 5,798 % je Monatsbeitrag. Und während die Rendite schrumpft, bleibt die Kostenkurve stabil.

Schade zeigt in Gutachten regelmäßig, dass viele Verträge nach interner Kostenverrechnung kaum mehr als 1 % Nettorendite pro Jahr erzielen – teils sogar weniger. In Rückabwicklungsfällen werden diese Zahlen plötzlich relevant: Denn was einmal abgezogen wurde, darf bei der Berechnung des Rückzahlungsanspruchs nicht doppelt verloren gehen. Eine genaue aktuariell-juristische Prüfung zeigt, ob die Kostenaufteilung rechtens war oder überproportional zulasten des Kunden verlief.

„Der Überschuss – ein Versprechen in Bewegung“

Wenn der Zins das Fundament und die Kosten das Mauerwerk sind, dann ist der Überschuss das Dach – schön glänzend, aber wetterabhängig. Überschüsse sollten die Garantien ergänzen und dem Kunden Beteiligung an den Erträgen sichern. In der Praxis aber sind sie oft schwankend, intransparent und variabel reduziert.

Prof. Schade nennt das „den schwankenden dritten Zins“.

„Der Überschuss war lange die stille Kompensation für steigende Kosten und sinkende Zinsen. Doch er ist kein Geschenk – sondern eine mathematische Rückverteilung, deren Mechanik nur wenige verstehen.“

In seinen Berechnungen analysiert Schade, wie Versicherer mit Bewertungsreserven, Beteiligungsquoten und Zinszusatzreserven jonglieren. Während der Zinsverfall ab 2010 zu einer massiven Anhäufung der Zinszusatzreserve führte, schmolzen gleichzeitig die Überschüsse. Jetzt, da die Zinsen wieder steigen, wird die Reserve teilweise aufgelöst,  theoretisch ein Gewinn für die Kunden. Doch in der Praxis hängt es von den Bewertungsmechanismen ab, ob dieser Vorteil tatsächlich ankommt.

In Rückabwicklungsfällen ist der Überschuss oft ein Streitfeld: Muss er rückwirkend berücksichtigt werden, wenn der Vertrag nie hätte bestehen dürfen? Schade sagt:

„Aus mathematischer Sicht: ja. Jeder Euro, der aus den Kundengeldern erwirtschaftet wurde, ist Teil des Kausalzusammenhangs. Rückabwicklung ohne Überschussanteil wäre eine Rechnung mit halber Wahrheit.“

„Storno – das Missverständnis der Branche“

Das Wort Storno klingt harmlos – dabei ist es ein millionenschweres Risiko. Storno meint die Kündigung eines Vertrags vor Ablauf. Versicherer kalkulieren Stornoquoten ein, um Provisionen zu decken, Garantien zu sichern und Überschüsse zu glätten. Doch in der Rückabwicklung dreht sich das Prinzip um: Was der Versicherer einst als „vorzeitigen Ausstieg“ wertete, wird zur juristisch erzwungenen Rückkehr an den Ursprung.

Schade beschreibt, wie in alten Policen Stornoabzüge den Rückkaufswert um bis zu 15 % minderten – teilweise ohne vertragliche Grundlage. Diese Praxis wurde später vom BGH schrittweise eingeschränkt. Heute gilt: Stornoabzüge sind nur zulässig, wenn sie sachlich gerechtfertigt und vertraglich klar geregelt sind.

In der Rückabwicklung müssen diese Abzüge vollständig korrigiert werden. Die mathematische Folge: Der ursprüngliche Kapitalwert muss neu berechnet werden – ohne Stornoeffekt, aber mit allen gezahlten Beiträgen und Erträgen.

Ein Beispiel aus einem Gutachten: Ein Vertrag über 20 Jahre, 30.000 € Beiträge, Rückkaufswert laut Versicherer 22.000 €, davon 2.500 € Stornoabzug. Nach Schades Berechnung wäre der reale Anspruch bei 26.000 €, inklusive Nutzungsersatz sogar bei 28.000 €. Die Differenz zeigt, wie massiv Storno in Rückabwicklungsfällen wirkt – und warum Versicherer sie ungern thematisieren.

„Nutzungsersatz – die Revanche der Mathematik“

Juristisch klingt es sperrig, mathematisch ist es faszinierend: der Nutzungsersatz. Wer Geld entgegennimmt, darf es nicht kostenlos behalten, wenn der Vertrag nie wirksam war. In der Rückabwicklung bedeutet das: Der Versicherer muss nicht nur die Beiträge erstatten, sondern auch die Erträge herausgeben, die er aus deren Anlage gezogen hat.

Schade vergleicht das mit einem Zinsflussmodell:

„Wenn der Versicherer jedes Jahr Beiträge erhielt, hat er sie investiert. Diese Kapitalnutzung ist quantifizierbar. Der Nutzungsersatz bildet den ökonomischen Spiegel der Vertragstreue.“

In der Praxis wird oft gestritten, welcher Zinssatz anzusetzen ist. Manche Gerichte orientieren sich am Basiszinssatz, andere an durchschnittlichen Kapitalmarktrenditen. Schade plädiert für ein dynamisches Modell: Der Nutzungsersatz sollte den realen Kapitalfluss des Versicherers abbilden – also jenen Zins, den er tatsächlich erzielen konnte.

Ein Rechenbeispiel verdeutlicht den Effekt:
Ein Kunde zahlte über 15 Jahre 20.000 € ein. Wurde daraus eine jährliche Durchschnittsverzinsung von 2,5 % erzielt, ergibt sich ein Nutzungsersatz von rund 4.500 €. Wird nur mit 0,5 % gerechnet, schrumpft der Betrag auf 900 €. Diese Spanne kann über den Erfolg oder Misserfolg einer Rückabwicklung entscheiden – und sie zeigt, wie sensibel kleine Rechenannahmen wirken.

Mathematik bei Lebensversicherungen - Prof. Dr. Schade

„Die Mathematik der Fairness“ – Aktuare zwischen Präzision und Moral

Prof. Schade sagt:

„Mathematik ist in der Lebensversicherung kein Selbstzweck. Sie ist das Werkzeug, um Gerechtigkeit zu quantifizieren.“

Aktuare stehen an einer ethischen Schnittstelle: Sie übersetzen abstrakte Geldflüsse in gerechte Zahlen. Schade spricht in diesem Zusammenhang von einer „Fairnessfunktion“. Seine Analysen zeigen, dass Rückabwicklungen nicht pauschal „Anti-Versicherung“ sind, sondern eine Form der finanziellen Wiedergutmachung, wenn Rechenwerk und Belehrung auseinanderlaufen.

Er arbeitet mit sogenannten Sensitivitätsmodellen, die kleine Parameteränderungen simulieren:
Was passiert, wenn der Rechnungszins um 0,25 % steigt? Wie verändert sich der Anspruch, wenn Verwaltungskosten halbiert werden? Solche Simulationen zeigen, dass schon minimale Anpassungen die Renditekurve kippen können. Diese Rechenexperimente liefern Gerichten und Kanzleien die Grundlage, um Forderungen realistisch zu bemessen – und zugleich zu verstehen, dass kein Rechenmodell absolut ist.

„Von der Formel zur Verantwortung“

Der Reiz der Mathematik liegt in ihrer Klarheit – doch in der Lebensversicherung wird sie oft politisch. Rechenannahmen sind Verhandlungssache, Prognosen Ausdruck von Macht. Schade mahnt deshalb:

„Wer Zahlen versteht, muss sie auch verteidigen können.“

Er fordert mehr Transparenz in den Geschäftsberichten der Versicherer: Welche internen Zinssätze werden angesetzt? Wie werden Kosten verteilt? Wie werden Überschüsse berechnet? Erst wenn diese Parameter offengelegt werden, könne der Markt wieder Vertrauen gewinnen.

In seinen Vorträgen nennt Schade das „die demokratische Rückkehr der Formel“. Eine Lebensversicherung sei kein Rätselspiel, sondern ein Vertrag, der in jedem Schritt nachvollziehbar sein müsse. Rückabwicklung ist dabei nicht das Ende, sondern ein Weckruf: Sie zeigt, dass Mathematik dort scheitert, wo sie in Geheimhaltung übergeht.

„Was bleibt?“ – Die Rückkehr des Vertrauens in die Zahl

Das Rechenherz schlägt – auch wenn viele es kaum hören. Rückabwicklungen holen diese leisen Prozesse an die Oberfläche: Zinsen, die nicht hielten, was sie versprachen; Kosten, die Vertrauen fraßen; Überschüsse, die verdunsteten; Stornoabzüge, die falsch berechnet waren; Nutzungsersatz, der unbezahlt blieb.

Prof. Schades Arbeit zeigt: Hinter jedem dieser Parameter steht eine Geschichte aus Annahmen, Prognosen, Rechenmodellen und Menschen, die sie interpretieren. Wer diese Mechanik versteht, kann seinen Vertrag nicht nur juristisch, sondern ökonomisch durchdringen.

Die Zukunft? Sie liegt in der Verzahnung von Transparenz und Technik. Digitale Analysemodelle, KI-gestützte Rückabwicklungsrechner, öffentlich nachvollziehbare Kalkulationsparameter all das wird die nächste Generation von Versicherungsverträgen prägen. Doch bis dahin bleibt die Mathematik das schlagende Herz der Aufklärung.

Schlussgedanke:

Rückabwicklung ist kein Aufstand gegen Versicherungen, sondern ein Plädoyer für mathematische Wahrheit. Prof. Philipp Schade zeigt, dass Gerechtigkeit berechenbar ist – wenn man genau hinschaut. Und genau das ist der rote Faden dieser Serie: Die Zahlen lügen nicht. Aber sie benötigen Menschen, die sie verstehen.

V.i.S.d.P

Dr. Rainer Schreiber
Dozent, Erwachsenenbildung & Personalberater

Über den Autor:

Personalberater und Honorardozent Dr. Rainer Schreiber, mit Studium der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanzierung, Controlling, Personal- und Ausbildungswesen. Der Blog schreiber-bildung.de bietet Themen rund um Bildung, Weiterbildung und Karrierechancen. Sein Interesse liegt in der beruflichen Erwachsenenbildung und er publiziert zum Thema Personalberatung, demografischer Wandel und Wirtschaftspolitik. 

Kontakt

Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte
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