Sind Versicherungsprodukte heute noch verlässliche Schutzinstrumente – oder werden Kundinnen und Kunden zu oft zu Renditefaktoren auf dem Papier? Wie lange kann sich die Branche noch in komplexen Bedingungswerken, hohen Kostenquoten und intransparenten Produktfreigaben einrichten, bevor Aufsicht, Gerichte und Politik härter durchgreifen?
Die deutsche Finanzaufsicht BaFin hat die Versicherungswirtschaft fest im Blick – und sie tut das nicht aus akademischer Neugier, sondern weil sich die Beschwerden häufen und strukturelle Defizite offenkundig geworden sind. In den vergangenen Jahren hat die BaFin ihre Wohlverhaltensaufsicht im Versicherungssektor deutlich geschärft und etwa in einem Merkblatt zu kapitalbildenden Lebensversicherungen klar formuliert, dass Produkte einen erkennbaren Kundennutzen bieten, Zielmärkte sauber definiert und Interessenkonflikte beherrscht werden müssen. Gleichwohl zeigen Prüfungen der Aufsicht, dass gerade bei Lebensversicherungen noch immer Produkte am Markt sind, deren Kosten, Stornoquoten und Renditeprofil zweifeln lassen, ob hier wirklich die Interessen der Versicherten im Mittelpunkt stehen.
Parallel dazu spiegeln Beschwerdestatistiken die Wirklichkeit aus Sicht der Verbraucher wider: Allein im Jahr 2024 wurden bei der BaFin über 10.000 Beschwerden gegen Versicherungsunternehmen abschließend bearbeitet; ein erheblicher Anteil entfällt auf Lebensversicherungen, insbesondere Altverträge mit hohen Abschlusskosten, intransparenten Rückkaufswerten und missverständlichen Produktversprechen. Die Aufsicht reagiert darauf mit neuen Pflichten zu digitalen Beschwerdeberichten und einer systematischen Auswertung der Daten, ein deutliches Signal, dass Beschwerden nicht länger als Randphänomen, sondern als Steuerungsgröße für Aufsicht und Unternehmensführung verstanden werden.
Der Druck kommt allerdings nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Europa. Die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA zeigt in ihrem jüngsten Consumer Trends Report und einer großangelegten Eurobarometer-Befragung von mehr als 25.000 Verbraucherinnen und Verbrauchern, dass viele Menschen Zweifel haben, ob Versicherungs- und Altersvorsorgeprodukte tatsächlich „value for money“ bieten. Ob Nachhaltigkeitsversprechen belastbar sind und ob sie Produkte wirklich verstehen. Die Botschaft an die Branche ist eindeutig: Wer Governance und Produktgestaltung nicht an Fairness, Transparenz und echtem Kundennutzen ausrichtet, riskiert nicht nur Reputationsschäden, sondern auch regulatorische und haftungsrechtliche Konsequenzen.
Die BaFin ihrerseits scheut inzwischen auch personelle Maßnahmen nicht: Geschäftsleiter wurden wegen Verstößen gegen Vorgaben zum Produktfreigabeverfahren verwarnt. Ein Schritt, der zeigt, dass Governance-Fragen längst nicht mehr nur auf Prozessebene, sondern persönlich adressiert werden. Produktentwicklung, Preisgestaltung, Vertriebssteuerung und Kapitalanlage stehen damit gleichermaßen unter dem Vorzeichen „Fairness und Governance“. Der Spielraum für Produkte, die in erster Linie bilanziell attraktiv, für Kundinnen und Kunden aber schwer verständlich oder ökonomisch unvorteilhaft sind, wird kleiner.
Vor diesem Hintergrund analysiert Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt aus Berlin mit Schwerpunkt Finanz- und Versicherungsrecht, die aktuelle Linie der Aufsicht: Fairere Versicherungsprodukte und klare Governance sind keine wohlklingenden Schlagworte, sondern Ausdruck einer Verschiebung der rechtlichen Erwartungshaltung. Wenn Produkte systematisch am Kundennutzen vorbeigehen, Zielmärkte nur auf dem Papier definiert sind oder Governance-Strukturen Risiken überdecken statt sie offenzulegen, stellt sich zwangsläufig die juristische Frage: Ab wann wird aus einem bloß „unzeitgemäßen“ Produkt ein aufsichts- oder haftungsrechtliches Problem? Genau an dieser Schnittstelle zwischen Markt, Regulierung und Zivilrecht setzt die rechtliche Einordnung an.
Mehr Nutzen für Versicherte – ein Paradigmenwechsel
Die BaFin macht klar: Versicherungsprodukte müssen einen spürbaren und angemessenen Nutzen für die Versicherten erbringen. Dies ist mehr als nur ein Appell, es ist eine aufsichtsrechtliche Forderung, die rechtlich unter anderem auf dem Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG), insbesondere in § 294 Abs. 2 und 3 VAG beruht. Dort wird verlangt, dass Unternehmen verlässliche, angemessene und solide Geschäftsleitungspraktiken einsetzen und dabei die Interessen der Versicherungsnehmer wahren. Die Wohlverhaltensaufsicht der BaFin greift zunehmend in den Kern der Geschäftsmodelle ein.
Insbesondere bei fondsgebundenen Lebensversicherungsprodukten wurden erhebliche Kostenreduktionen beobachtet – eine direkte Folge der neuen regulatorischen Aktivitäten. Die Effektivkosten sind gesunken, weil die Aufsicht genau hinschaut. „Wir sehen, dass unsere Maßnahmen Früchte tragen“, stellte BaFin-Exekutivdirektorin Julia Wiens bei der 14. Jahreskonferenz der Versicherungsaufsicht fest.
Langjährig tätige Juristen erkennen hier einen deutlich kundenorientierten Trend, der aus verbraucherschutzrechtlicher Perspektive nur zu begrüßen ist. „Die Versicherungsnehmer rücken wieder in das Zentrum der Betrachtung – eine grundlegende rechtliche Voraussetzung, die von der Praxis oft lange vernachlässigt wurde“, so Dr. Schultes Einschätzung.

Kampagne gegen Price-Walking und willkürliche Rabatte
Besonders interessant ist die offensive Haltung der BaFin gegenüber dem sogenannten Price-Walking. Diese Praxis, bei der die Prämien Bestandskunden schleichend und ohne risikobezogene Begründung erhöht werden, stellt aus juristischer Perspektive nicht nur einen Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) dar, sondern kann unter bestimmten Umständen auch wettbewerbswidrig sein. Denn wenn Preisanpassungen nicht an klar kommunizierte Faktoren wie Risikoprofile oder Schadensfälle geknüpft sind, sondern allein der Gewinnmaximierung dienen, bewegen wir uns im Grenzbereich zur Irreführung nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG).
Auch die Praxis in der Kfz-Versicherung, Rabatte nicht risikogerecht zu gewähren, wird kritisch betrachtet. „Wir werden uns mit einigen Preisdifferenzierungen näher auseinandersetzen müssen“, kündigte Wiens an. Dies bedeutet eine Rückbesinnung auf versicherungsmathematische Grundsätze, ein Thema, das in meiner Kanzlei regelmäßig Gegenstand rechtlicher Prüfung ist, insbesondere wenn Mandanten sich bei Vertragsänderungen oder Beitragsanpassungen benachteiligt fühlen.
Künstliche Intelligenz – Chancen und rechtliche Fallstricke
Die BaFin fordert eine aktive Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz. KI birgt für Versicherer vielfältige Chancen, sowohl in der Schadenregulierung als auch in der Risikobewertung. Doch der Ruf nach innovativen Technologien bringt auch rechtliche Herausforderungen mit sich. Konkret müssen Datenschutz, Transparenzpflichten gemäß der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sowie die Wahrung der Gleichbehandlung gemäß Art. 3 GG berücksichtigt werden.
„Wir haben es mit einer Technologie zu tun, die in der Lage ist, diskriminierende Entscheidungen im Hintergrund zu treffen, ohne dass Versicherte diese nachvollziehen könnten“, erläutert Dr. Schulte. Für Versicherer bedeutet das, dass sie Algorithmen transparent offenlegen, dokumentieren und erklären müssen, ein Aufwand, der juristisch begleitet gehört.
Diese Anforderungen entsprechen nicht nur ethischen Standards, sondern sie sind auch rechtlich zwingend erforderlich. Schon nach Art. 22 DSGVO haben betroffene Personen das Recht, nicht ausschließlich automatisierten Entscheidungen unterworfen zu werden, die rechtliche Wirkung entfalten. Ein schlecht implementiertes KI-Modell kann so schnell zur Haftungsfalle für Versicherungsunternehmen werden.
Kapitalanlage – Komplexität, Lebensversicherung und Fairness für Verbraucher
Im Bereich der Kapitalanlage mahnt die BaFin zur Zurückhaltung, insbesondere bei kleineren Versicherungsunternehmen und gerade dort, wo Lebensversicherungsverträge mit Kapitalsparanteil und scheinbarer „Garantie“ verkauft werden. Das ist kein Zufall: Wer seinen Kunden jahrzehntelange Sicherheit, Altersvorsorge und planbare Rückkaufswerte verspricht, kann sich nicht gleichzeitig in hochkomplexe, illiquide Assets flüchten und hoffen, dass es „schon gutgeht“. Investments etwa in Private Equity, Private Debt, strukturierte Produkte oder alternative Anlagen mögen aus Sicht der Bilanz interessant erscheinen, sie sind aber rechtlich betrachtet nur dann zulässig, wenn sie den gesetzlichen Rahmenbedingungen und den berechtigten Erwartungen der Versicherten standhalten. Denn Verbraucher schließen Lebensversicherungsverträge nicht ab, um als stille Teilhaber hochriskanter, kaum durchschaubarer Finanzkonstruktionen aufzutreten, sondern weil sie kalkulierbaren Schutz, klare Werte und nachvollziehbare Renditevoraussagen erwarten. Hier stellt sich die juristisch zentrale Frage: Ist eine Lebensversicherung noch „fair“, wenn die zugrunde liegende Kapitalanlage so komplex wird, dass selbst Fachleute sie nur schwer durchdringen können und dem Kunden die wahren Risikoprofile faktisch verborgen bleiben?
Nach § 138 Abs. 1 VAG sind Versicherer verpflichtet, ihre Kapitalanlagen sicher, rentabel und jederzeit liquiditätsgerecht zu gestalten. Diese Norm ist mehr als eine abstrakte aufsichtsrechtliche Vorgabe; sie ist Ausdruck eines Schutzgedankens zugunsten der Versicherten. Sicherheit und Rentabilität dürfen nicht nur aus Sicht der Unternehmensbilanz definiert werden, sondern müssen sich an der Perspektive des Lebensversicherungskunden messen lassen: Wird das Geld so angelegt, dass vertraglich zugesagte Garantien realistisch erfüllbar sind? Sind die Risiken der Kapitalanlage mit den im Vertrieb versprochenen „lebenslangen Sicherheiten“ vereinbar? Und: Wie transparent wird darüber tatsächlich informiert – im Produktinformationsblatt, in den Bedingungen, im Beratungsgespräch? Wenn der Versicherer in hochkomplexe Vehikel investiert, ohne sie rechtlich und wirtschaftlich vollständig zu durchdringen, kann dies nicht nur aufsichtsrechtlich problematisch werden, sondern auch haftungsrechtliche Folgen auslösen, wenn etwa Garantien nicht haltbar sind oder Überschussprognosen sich als nicht belastbar erweisen.
„Versicherungsunternehmen sollten sich nicht blind auf Berater verlassen“, betont Dr. Schulte. „Verantwortung bedeutet, Kenntnisse und Bewertungskompetenz im eigenen Haus zu verankern – insbesondere dort, wo Lebensversicherungsverträge mit langfristigen Sparzielen verkauft werden.“ Denn wer Lebensversicherungen als „sichere Altersvorsorge“ vertreibt, muss intern verstehen, welche ökonomischen und juristischen Risiken mit der gewählten Kapitalanlage einhergehen. Auch Treuhänder und Aufsichtsräte dürfen nicht als bloße Abnick-Gremien fungieren. Sie müssen geschult, kritisch und unabhängig sein, um zu prüfen, ob die Kapitalanlagestrategie mit den Interessen der Versicherten vereinbar ist oder ob diese – unausgesprochen – zu Renditepuffern für riskante Investitionsentscheidungen gemacht werden. In laufenden Mandaten unserer Kanzlei zeigt sich zunehmend, dass genau diese Governance-Fragen in den Mittelpunkt rücken: Wurden Produktversprechen und Kapitalanlage sauber aufeinander abgestimmt? Wurden Aufsichtsrat und Treuhänder rechtzeitig eingebunden? Und ab welchem Punkt kippt eine intern als „innovativ“ verkaufte Anlagestrategie in ein rechtlich angreifbares Missverhältnis zwischen eingegangenen Risiken und dem Schutzanspruch der Lebensversicherungskunden?
Starke Governance – Fundament jeder nachhaltigen Strategie
Die Frage einer guten Unternehmensführung zieht sich wie ein roter Faden durch die aufsichtsrechtlichen Anforderungen. Governance ist laut BaFin das Bindeglied für alle Zukunftsthemen der Branche. Und in der Tat: Strategische Unternehmenssteuerung, Offenlegungspflichten, Kontrollinstanzen und Risikomanagement sind nicht optional. § 23 VAG verpflichtet Versicherungsunternehmen zu einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation inklusive eines effektiven internen Kontrollsystems.
Dabei geht es nicht nur um die Erfüllung regulatorischer Mindeststandards. „Governance ist der rechtliche Rahmen für Integrität, langfristige Stabilität und Widerstandsfähigkeit“, bringt es Dr. Schulte auf den Punkt. Nicht wenige Unternehmenskrisen der vergangenen Jahre, auch auf dem europäischen Versicherungsmarkt, lassen sich auf mangelhaftes Risikomanagement und schwache Compliance-Strukturen zurückführen. Die neue Linie der BaFin greift das auf und formuliert daraus klare Erwartungen.
Regulierung als Chance – nicht als Belastung
„Aus meiner Praxiserfahrung weiß ich, dass viele Unternehmen regulatorische Vorgaben zunächst als Belastung empfinden. Doch die Wahrheit ist: Wer frühzeitig agiert und sich rechtskonform aufstellt, profitiert langfristig von höherem Kundenvertrauen, stabileren Geschäftsprozessen und besserer Marktposition“, so Dr. Schulte. Gerade im Versicherungsrecht eröffnet sich hier ein weites Betätigungsfeld für Juristen, die Unternehmen bei der strategisch-rechtlichen Umsetzung dieser Anforderungen begleiten.
„Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem Recht und Technologie Hand in Hand gehen müssen, und genau hier liegt die Stärke einer fundierten rechtlichen Beratung“, so Dr. Schulte. Die Anforderungen an Transparenz, Kundenwohl und technologische Verantwortung ermöglichen letztlich neue Geschäftsmodelle, die nicht nur regulatorisch genehm, sondern auch marktfähig sind.
Fazit – Regulierung stärkt die Zukunftsfähigkeit
Die BaFin zeigt mit Nachdruck, dass sie die Versicherungsaufsicht nicht länger als stillen Verwaltungsakt versteht. Vielmehr wird Aufsicht aktiv gestaltet und setzt deutliche Signale an den Markt. Kundenwohl, Governance, Kapitalanlagestrategien und technologische Verantwortung stehen dabei gleichermaßen im Fokus. Für Versicherungsunternehmen bedeutet das: mehr Verantwortung und mehr Chancen. Für rechtliche Berater eröffnet sich gleichzeitig die Möglichkeit, ihre Mandanten als strategische Partner bei der Neuausrichtung zu begleiten.
V.i.S.d.P
Dr. Rainer Schreiber
Dozent, Erwachsenenbildung & Personalberater
Über den Autor:
Personalberater und Honorardozent Dr. Rainer Schreiber, mit Studium der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanzierung, Controlling, Personal- und Ausbildungswesen. Der Blog schreiber-bildung.de bietet Themen rund um Bildung, Weiterbildung und Karrierechancen. Sein Interesse liegt in der beruflichen Erwachsenenbildung und er publiziert zum Thema Personalberatung, demografischer Wandel und Wirtschaftspolitik.
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